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The Thing: Back to the Roots

Tilman Baumgärtel   12.02.98

Das WWW als Mailbox

Gerade hat mit der  Internationalen Stadt eine der ersten Virtual Communities auf WWW-Basis zugemacht, da versucht ein Online-Kunstpionier genau das noch einmal: eine virtuelle Gemeinschaft zu schaffen, die im WorldWideWeb funktioniert.

Wolfgang Staehle, der Gründer von  The Thing New York , hat diese Woche eine neue Software vorgestellt, die die kommunikativen Möglichkeiten von Websites verbessern soll: "Something", das auf einer Website mit der coolen URL  http://www.something.tm , präsentiert wird (tm ist die Top-Level-Domain- Abkürzung für Turkmenistan.)

"Something" ist eine Software, die unter der Oberfläche von Webpages läuft, und das WWW quasi in eine gute, alte BBS circa anno 1991 zurückverwandelt. Die Funktionalitäten von Mailboxen, die durch den Siegeszug des Internets so gut wie ausgestorben sind, sollen durch dieses Programm wieder benutzbar gemacht werden: Mit "Something" können auf einer Webpage wieder "Messageboards", die fast vergessenen "Bretter" der Mailboxen angelegt werden, Diskussionen können "threaded" or "serial" angezeigt und von einem Redakteur moderiert werden.

Außerdem zeigt das System jedem Benutzer an, welche anderen User sich gerade online befinden: Bei "The Thing" läuft "Something" schon seit einiger Zeit, und begrüßt den Surfer, der sich eingeloggt hat, mit einem herzlichen "Gib mir einen Dollar", bevor es anzeigt, wer sonst noch auf der Site herumstöbert. Diese Onliner können dann Kontakt miteinander aufnehmen und chatten. "Show everybody who's online", heißt es in der Werbung für Something. "They'll get to know each other pretty soon." "Something" läuft auf Apache-Webservern, und wird zusammen mit dem Source-Code verkauft, damit man das System für die eigene Site anpassen kann.

Für Staehle ist die WWW-Mailbox eine Rückkehr zu den Wurzeln von The Thing, das 1991 als Mailbox in New York gestartet wurde. Schnell kamen "Filialen" in Deutschland hinzu: zunächst Köln, dann auch Düsseldorf, Hamburg, Frankfurt und Berlin; bald hatten auch die Schweiz und Österreich ihr eigenes Thing, die einmal pro Nacht, wenn die Telefongebühren niedrig waren, Messages austauschten. Für einige Zeit war die Mailbox ein Umschlagort für Kunstratsch und -tratsch, aber auch für ersthafte Diskussionen und sogar richtige Konferenzen: der New Yorker Künstler Jordan Crandall veranstaltete ein Online-Symposium namens Transactivism. Auch Netzkunst gab es bei The Thing in ihrer rudimentärsten Form: Peter Halley bot eins seiner Gemälde zum Download an.

Die Hochzeit von The Thing war zwischen 1992 und 1994, dem Jahr, als der große Internet-Hype einsetzte. Zur ars electronica 1995 präsentierte Staehle dann The Thing als Website, aber viele der kommunikativen Funktionen waren verloren gegangen. Einige Message-Boards aus der Frühzeit sind zwar auf der Website noch immer zu finden und werden auch benutzt, aber die hitzigen Debatten, die sich in der Mailbox Anfang der 90er Jahre abgespielt haben, haben sich nicht ins WorldWideWeb übertragen lassen.

Mit "Something" soll nun die Diskussionkultur auf WWW-Basis wieder aufleben. Steahle ist selbst skeptisch, ob sich The Thing im Internet noch einmal reaktivieren läßt: "Ich habe den Eindruck, daß die Szene schon jetzt in so viele Subpartikel aufgesplittert ist, daß man das vielleicht gar nicht mehr fokussieren kann. Inzwischen sind die Leute auch in alle Winde zerstreut." Aber mit "Something" soll wenigstens der Versuch unternommen werden, das Internet als Debattenplatz zu erhalten.

Nachdem die Newsgroups immer mehr mit Spam zugemüllt werden und intensive Diskussionen eher auf geschlossenen Mailinglisten stattfinden, könnte eine solche Plattform durchaus Erfolg haben. Andererseits bedarf es beim User schon einer guten, am besten dauernden Internet-Anbindung, um ein System wie "Something" wirklich nutzen zu können.

Ob The Thing ein Kunstwerk, eine Art "soziale Skulptur", gewesen sei, ist Staehle häufig gefragt worden. Er selbst hat irgendwann aufgehört, darüber nachzudenken: "Für mich ist das irrelevant; das sollen die Historiker entscheiden."


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