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Interview mit Alexeij Shulgin

Armin Medosch   22.07.97

Balancieren zwischen Kommunikation und Kunst, Ost und West

Der Moskauer Künstler Alexei Shulgin beschäftigte sich ursprünglich mit Fotografie. Seitdem er das  Moskau-WWW-Art-Zentrum im Jahr 94 begründete, öffneten sich für ihn internationale Anschlüsse und der Weg zu Kooperationen mit Künstlern u.a. in London, Slowenien, Barcelona. Konferenzen wie  N5M II , Amsterdam, DEAF 96 V2_East, Rotterdam oder LEAF97 in Liverpool boten die Möglichkeit zur Vertiefung der Kooperationen. Eine Reihe interessanter, kollaborativer Gruppenprojekte entstanden, wie z.B. die  Internet-Goldmedaille (Shulgin-Baker), der  Refresh-Loop (Shulgin-Cosic-Broekmann) oder  CERN , ein Projekt, mit dem Künstler ihrer Idee eines offenen Netzlabors Ausdruck verleihen (Shulgin-Bunting-Cosisc-u.a).

In jüngster Zeit hat sich Shulgin auch wieder verstärkt Einzelprojekten gewidmet, wie z.B. dem Projekt  "Form Art" , das durch ein Stipendium am  C3 Zentrum in Budapest ermöglicht wurde und bei dem er die HTML-Befehle für Web-Formulare zweckentfremdend für ästhetische Gestaltung benutzte. Doch trotz zunehmender Bekanntheit und Herumgereicht-werdens auf internationalen Festivals lebt und arbeitet Shulgin weiterhin weitgehend isoliert (abgesehen von den Internetverbindungen) in Moskau. Armin Medosch sprach mit Alexei Shulgin über sein Verhältnis zum Künstlertum zwischen Ost und West und zur Kunst im Internet.

  Wir befinden uns bei der  LEAF97-Konferenz und das Thema sind die Ost-West-Beziehungen und die Kunst. Die erste Frage, die mir in den Sinn kommt, ist, ob es Dir als Künstler angenehm ist, vorwiegend als russischer, als osteuropäischer Künstler bezeichnet zu werden?

  Alexeij Shulgin: Natürlich überhaupt nicht. Und die Art wie ich von westlichen Kunstkritikern behandelt wurde, als eine Art typischer, bzw. immer irgendwie russischer Künstler war vielleicht auch eine der Motivationen, warum ich mit dem Internet zu arbeiten begann, weil das Internet andere Möglichkeiten schafft. Ich bin da durch ganz dumme Situationen gegangen. Meine Arbeiten wiesen keinerlei Anzeichen auf, in Moskau produziert worden zu sein und hatten keine Beziehung zu jedweder russischen oder östlichen Ikonographie. Nichtsdestotrotz wurde ich als Künstler aus dem Osten gehandelt.
Ich denke das traditionelle Kunstsystem braucht jeweils immer einen bestimmten Kontext, in dem es Werke plazieren kann. In diesem System gibt es gar keine Arbeiten von Künstlern ohne Kontext. Für russische oder osteuropäische Künstler ist es beinahe unmöglich, diese Zugangsweise des Kunstsystems zu überwinden. Ich spreche vom westlichen Kunstsystem, weil es das am weitesten entwickelte ist und eine spezifische Geschichte aufweist.

Wenn wir uns die erfolgreichsten Künstler ansehen, die aus Osteuropa kommen, so z.B. Kabakov, so werden sie immer in diesen östlichen, postsozialistischen Kontext gerückt. Ich muß aber auch zugeben, daß manche von ihnen damit spielen, sie spielen bewußt die Rolle des Künstlers aus dem Osten. Kabakov, der Russland vor 10 Jahren verlassen hat, produziert immer noch Installationen voller Referenzen an die totalitäre Vergangenheit.

  Bis zu einem gewissen Punkt kann diese Bezugnahme als "russischer Künstler" hilfreich sein, weil man so zur Teilnahme an Projekten eingeladen wird, doch im nächsten Moment kann daraus ein Mittel werden, das zu Ausschlüssen führt.

  Alexeij Shulgin: Ja, genau. Das geht in beide Richtungen. Doch die Inklusion ist immer eine ausbeuterische Inklusion, weil der Kontext, in dem eine Arbeit gezeigt wird, so wichtig ist, und dieser Kontext wird immer falsch behandelt.

  Glaubst Du, daß diese Denkweise in Ost/West-Schemata noch in irgendeiner Hinsicht nützlich ist, oder sollte man sie nicht einfach aufgeben?

  Alexeij Shulgin: Nun, ich würde sagen, man kann dieses Schema taktisch nutzen. So gab es mir z.B. die Möglichkeit, hierher zu kommen, zu diesem Videofestival, und Leute zu treffen, die ich kenne und mag und mit denen ich über das Internet zusammenarbeite. Es ist eine Art parasitärer Nutzung eines existierenden Systems, das man für eigene Zwecke mißbraucht. In dieser Hinsicht kann es also schon sehr nützlich sein. Doch das ganze Thema rund um dieses Dilemma, diese Teilung, ich denke für mich persönlich ist das überhaupt nicht interessant.

  Du bist eine sehr "exotische" Person im doppelten Sinn. Du bist ja nicht nur ein Künstler aus Moskau, sondern auch ein Internet-Künstler aus Moskau, eine sehr rare Spezies...

  Alexeij Shulgin: Ja, aber da tritt wieder dieselbe Haltung in der selben Art und Weise in Aktion, diesen Umstand zu kontextualisieren. Nun, es ist noch nicht ganz sicher, aber ich werde wahrscheinlich versuchen, das zu überwinden, indem ich ein Projekt beginne, das auf verschiedenen Projekten beruht, die auf verschiedenen Servern überall in der Welt gelagert sein werden; es wird also so eine Art verteilter Server sein. Und es geht nicht nur darum, das Ost-Klischee zu überwinden, sondern jedes Klischee, jede eindeutige Identität. Denn an einem bestimmten Punkt, wenn ich eine festgelegte Identität zu haben beginne, führt das zur Stagnation.

  In den letzten Wochen gab es auf Nettime eine recht interessante Diskussion über "net.art" oder "art on the net". Du hast Dich an dieser Diskussion beteiligt. Als eine Art Kommentar möchte ich dazu anführen, daß man sich in dieser Diskussion auf Videokunst bezog und alle schienen darin übereinzustimmen, daß man diesen Begriff Videokunst nicht mehr benutzen sollte, er ist eine Art Falle, die in eine Sackgasse, ein Ghetto der Videokünstler führt. Was ich jedoch vermißt habe, war eine Diskussion des Begriffs "Medienkunst", der in der Phase zwischen dem Höhepunkt der Videokunst und dem Aufkommen der Netzkunst sehr gebräuchlich war. Der Begriff "Medienkunst" wird immer noch benutzt, könnte aber bald dasselbe Schicksal wie der Begriff "Videokunst" erleiden. Deshalb stimme ich zu einem gewissen Grad mit David Garcia überein, der gemeint hatte, daß es strategisch nicht so klug wäre, sich allzusehr auf den Begriff "Netzkunst" festzulegen, weil auch der ein baldiges Ablaufdatum haben könnte.

  Alexeij Shulgin: Ja, das stimmt. Nun habe ich dazu allerdings zwei Dinge dazu zu sagen. Wenn wir von Videokunst sprechen und meinen, dieser Begriff wäre nun veraltet, dann sieh Dich um, was hier in Liverpool und Manchester passiert, ist ein sehr großes Festival, bei dem es eindeutig vor allem um Videokunst geht. Das bringt also immer noch sehr viel Geld zusammen, sehr viele Leute und sehr viel Aufmerksamkeit.
Und das zweite ist, wenn wir von Netzkunst sprechen, dann schreiben alle Leute in den Diskussionen immer "net.art". Das erinnert viel eher an einen Dateinamen in UNIX als an einen neuen Ismus. Und ich denke, daß das sehr wichtig ist, denn dieser Begriff in dieser Schreibweise umfaßt auch sehr viel Selbstironie.
Wenn wir von "net.art" oder "art on the net" sprechen, dann vertreten einige Leute auch den Standpunkt, daß wir überhaupt den Begriff Kunst in diesem Zusammenhang fallenlassen sollten, daß wir Dinge tun sollten, die mit dem Kunstsystem nichts zu tun haben, etc.. Ich denke, daß das gar nicht möglich ist, insbesondere auf dem Netz, wegen des Systems der Hyperlinks. Was immer jemand auch tut, es kann in den Kunstkontext gerückt werden, es kann durch Links an Kunstinstitutionen angekoppelt werden, an Sites, die sich auf Kunst beziehen.
Und wenn wir den Begriff Kunst aufgeben, was bleibt uns dann noch? Wie sollen wir uns selbst identifizieren, wie Kontakte machen, wie unseren Kontext schaffen? Das ist also eine sehr zweischneidige Sache. Auf der einen Seite brauchen wir diese Namen, diese Definitionen, diese Ismen nicht mehr. Doch auf der anderen Seite müssen wir uns in einem Kontext bewegen. Und in diesem Sinn denke ich, daß wir uns nicht so leicht der Kunst entledigen können.

Es gibt da noch einen anderen Punkt, den ich zuvor erwähnt hatte, einen taktischen Punkt. Es gibt natürlich eine existierende Infrastruktur der Kunst, und diese kann benutzt werden. Das erinnert mich an das Internet selbst. Es benutzt ebenso existierende Strukturen wie z.B. das Telephonnetz, um digitale Daten zu übertragen. So verhält es sich auch mit dieser Gruppe von Leuten, die im Netz arbeiten, ohne eine feste Identität zu haben. Wir benutzen ein existierendes System, das System der Kunst, und versuchen damit etwas anderes zu machen.

  In einem Deiner Kommentare auf Nettime entsteht der Eindruck, daß Du eine recht zynische Vorstellung von der Zukunft der Netzkunst hast. Du sagtest, es würde bald die ersten Stars der Netzkunst geben und einige Namen würden groß werden und in das konventionelle Kunstsystem Eingang finden.

  Alexeij Shulgin: Natürlich, genau das passiert und es passiert jetzt. Wie man sehen kann, sind einige wenige Netzkunstprojekt in die documenta x Site aufgenommen worden. Ein anderer Aspekt ist, daß das Internet sehr demokratisch und zugänglich zu sein scheint. Man stelle sich also vor es arbeiten 50.000 Leute im Netz als Künstler, wer wird sich das noch ansehen? Es muß ein System der Kontextualisierung geben, ein System der Erstellung von Hotlists, des Kuratierens...das in gewisser Weise eine neue Machtstruktur darstellen wird, doch andererseits können wir ohne das alles nicht auskommen, es ist eine sehr ambivalente Situation.

  Dein Arbeitsgebiet im Besonderen ist sehr vielfältig. Du bemühst Dich nicht nur um "Ausdruck" als Künstler, Du schlüpfst ebenso in die Rolle des Kurators und des Kritikers. Was macht für Dich im Kern Netzkunst interessant, was könnten Kriterien für die Auswahl sein, für das Sprechen über Netzkunst.

  Alexeij Shulgin: Was für mich interessant und was eine Art Kriterium sein könnte, ist die Balance zwischen einem mehr traditionellem künstlerischem Zugang und diesem neuem kommunikativem Zugang, denn das Internet ist ein Medium für die Kommunikation Von-Vielen-zu-Vielen. Wenn wir in die Richtung der puren Kommunikation gehen, was sicherlich sehr interessant ist, wie können wir dann aber noch einen Kontext herstellen, wie damit an die Öffentlichkeit gehen, wie soll es wahrgenommen werden? Und wenn wir zurückgehen, in die Richtung eines traditionell künstlerischen Ansatzes, was macht dann noch den Unterschied aus, ob eine Arbeit am Netz ist oder in einer Galerie? Ich finde das sehr interessant, weil das eine sehr taktische Angelegenheit ist. Das Internet ermöglicht es jetzt, die Zugangsweisen auszubalancieren. Es ist ein Balancieren zwischen Kunst und Kommunikation, zwischen Ost und West.
Ich kann den Umstand nicht leugnen, daß ich aus Moskau komme, was sozusagen das weit östlich gelegene Grenzland für die zeitgenössische westliche Kultur darstellt. Das Balancieren zwischen den verschiedenen Kontexten ist für mich eine sehr aufregende Angelegenheit, weil es mir eine Art temporärer Freiheit gibt. Andererseits hilft es mir auch, sichtbar zu sein, zu kommunizieren, Leute zu finden, einfach weiterzumachen. In gewisser Weise ist es aber auch problematisch, weil es damit gleichzusetzen ist, keine feste Identität zu haben, doch es gibt auch temporäre Identitäten.

  es ist wahrscheinlich eine sehr gewöhnliche Frage, aber kannst Du mir ein Beispiel für das geben, was Du gerade gesagt hast?

  Alexeij Shulgin: Wie ich gestern in meiner Präsentation erwähnte, sind meine beiden Lieblingskünstler Heath Bunting und  Jodi.org , obwohl sie sehr verschieden sind. Sprechen wir zunächst von Heath Bunting: Er produziert sichtbare Dinge im Netz, die überwiegend mit kommunikativen Aspekten des Internet in Beziehung stehen. Darüber hinaus ist die Art, wie er sich als Person präsentiert, sehr stimmig, paßt sehr gut mit dem zusammen, was er macht. Er ist wie ein Performance-Künstler, der im Netz arbeitet. Deshalb würde ich seine Arbeit präsentieren.

Die Art, wie Jodi kommunizieren, ist völlig anders. Sie kommunizieren eigentlich überhaupt nicht mit Leuten, sondern mit dem Netz selbst, dessen Anhängsel die Leute sind. Alles was sie machen, sind Reflexionen über Dinge, die im Netz vor sich gehen und ihre Antworten darauf, also auf technologische Prozesse, ästhetische Prozesse usw.. In gewisser weise sind sie also auch sehr kommunikativ.

  Es gab immer wieder diese Referenzen zu Fluxus. Was ich daran sehr interessant finde, ist, daß, wenn wir uns diese historischen Kunstströmungen ansehen, es deren Ziel war, die Herstellung von Arbeiten als statische Objekte zu vermeiden. Sie konzentrierten sich auf den Zeitfluß, auf das Ereignis, auf die Schaffung einer Atmosphäre, alles sehr immaterielle Dinge. Doch bei aller Konzentration darauf war doch das Ergebnis, daß das Kunstsystem und die Leute um sie herum riesige Archive von Aufzeichnungen und Dokumentationen geschaffen haben. Jedes Stück Papier, das Beuys irgendwann berührt hat, ist heute in irgendeiner Sammlung zu finden. Könnte etwas Ähnliches nicht auch mit den kommunikativen Netzkunstprojekten geschehen?

  Alexeij Shulgin: Das könnte schon geschehen, aber um zunächst auf Fluxus zu sprechen zu kommen, ich denke, daß die Fluxus-Leute diese Impulse selbst gegeben haben, man denke nur an die "Flux-Box", das mobile Museum der Fluxus-Bewegung. Sie haben die Archivierung selbst betrieben. Ein anderes Problem ist, daß sie auf dem ausgewiesenem Kunst-Territorium gearbeitet haben, mit Galerien und Museen. Zum Unterschied dazu ist die Netzkunst sehr stark von Technologie abhängig, von Hardware, Software. Wenn man zum Beispiel Jodi hernimmt, sie müssen immer dranbleiben, ihre Site mit jeder neuen Version von Netscape überarbeiten. Was sie vor einem Jahr gemacht haben, existiert inzwischen gar nicht mehr. Es ist nicht dokumentiert, es ist digital, es wurde gelöscht.

  Denkst Du nicht, daß sie noch eine Version davon auf ihrer Festplatte haben?

  Alexeij Shulgin: Mit zugehöriger Version von Netscape 1.1? (lacht)
Ich denke, daß es schon möglich ist, aber völlig sinnlos wäre. Ich stimme mit dieser Ansicht überein, die ich bei einer der Diskussionen über Netzkunst auf Nettime gelesen habe, daß Kunst im Internet mehr wie Performance ist. Wenn wir in der Zukunft auf frühe Beispiele von Internetkunst zurückblicken würden, dann würden uns diese lächerlich erscheinen, denn das Netz bietet heute sehr mangelhafte Möglichkeiten für künstlerischen Ausdruck, aber schier unendliche Möglichkeiten für Kommunikation. Aber wie können wir diese kommunikativen Vorgänge aufzeichnen, wie sie dauerhaft speichern?

  Das funktioniert womöglich durch das Zeugnis von Menschen, durch Berichte über Menschen, durch die Historisierung von Kunst über ihre Personalisierung in Gestalt der Künstler. Die Künstler z.B., die sich auf den Begriff "net.art" geeinigt haben, bilden doch so eine Art loser Gruppierung; nichts völlig Festgelegtes, aber das verhielt sich doch auch ähnlich bei anderen Kunstbewegungen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Könnte nicht die Identifizierung dieser Gruppe, die Dokumentation ihrer "legendären frühen Meetings" usw. eine seltsame Historisierung herbeiführen?

  Alexeij Shulgin: In gewisser Weise wahrscheinlich schon. Doch andererseits, nachdem das Internet offen ist, ist auch jeder willkommen und es geht hauptsächlich darum, miteinander ähnliche Ideen zu teilen. Auch der Umstand, daß wir alle einen ganz verschiedenen Hintergrund haben, macht einen wichtigen Unterschied. Es geht mehr um die Überschneidungen von Ansichten auf einer persönlichen Ebene als um irgendein lokalisierbares kulturelles Lager.

  Danke für dieses Gespräch


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