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Documenta X - alte Meister und neue Medien

Michael Kurzidim   27.06.97

Retroperspektiven

Einen ganzen Sommer lang versucht die weltweit wichtigste Ausstellung für moderne Kunst in Kassel durch den "Blick zurück nach vorn" Strategien und Trends für das nächste Jahrtausend aufzuzeigen. Zum ersten Mal spielen auch Projekte im World Wide Web und die neuen Medien eine entscheidende Rolle.

Catherine David, die künstlerische Leiterin der zehnten Documenta, liess keine Gelegenheit verstreichen, sich unbeliebt zu machen. "Kassel ist scheusslich", bescheinigte Sie den Kasseler Bürgern unverblümt, es sei ein "herausragendes Beispiel der modernen Groteske". Die Bevölkerung revanchierte sich durch witzige Sprüche auf selbstgeklebten Plakaten, die jeder Besucher auf dem Ausstellungsparcour en passant nachlesen kann.

Auch auf der Eröffnungskonferenz am 19. Juni ging es harsch zur Sache. Über 1600 Journalisten und Medienvertreter mussten sich von der Leiterin der Documenta schulmeisterlich zurechtweisen lassen, sie sollten sich doch erst einmal detailliert mit ihrem Thesenpapier vertraut machen, anstatt weiter so dumme Fragen zu stellen. Mehr hätte Sie dazu nicht zu sagen. Dabei wollten die anwesenden Journalisten doch nur wissen, warum Künstler aus der Dritten Welt unterproportional vertreten seien. Der französische Charme der gebürtigen Pariserin Chaterine David blieb anfangs leider völlig auf der Strecke und erholte sich auch im weiteren Verlauf der Konferenz nur mühsam.

Schade eigentlich - denn das Konzept der Documenta-Chefin hat es in sich. In einer Zeit, in der die Gesetzmässigkeiten des Geldes den Rahmen abstecken, innerhalb dessen sich soziales Leben und individuelle Lebensläufe abzuspielen haben, gilt es, die "politische Potenz" der Kunst neu zu entdecken, fordert David in ihrer Eröffnungsrede.

Was leistet moderne Kunst?

Aktueller und brisanter könnte eine Documenta kaum sein, denn auch in Deutschland haben Politiker wie Wirtschaftsführer auf die zunehmende Brutalisierung der Märkte und die damit zusammenhängenden sozialen Verwerfungen wie Arbeitslosigkeit, Identitätskrisen und Kriminalität keine überzeugenden Antworten parat. Die Suche nach Lösungen gleicht einem von parteiischen Machtinteressen geleiteten Stochern im Nebel. Gebetsmühlenartig wiederholen Regierung und Opposition abgestandene Rezepte, die ihre Wirkungslosigkeit schon lange unter Beweis gestellt haben, um letztlich nur von ihrer eigenen Ideenlosigkeit abzulenken. Kann moderne Kunst hier wirklich Lösungsansaetze aufzeigen?

Die letzte Documenta in diesem Jahrtausend leistet zumindest eines: sie buchstabiert ein mögliches Alphabet, mit dem Lösungen geschrieben werden könnten. Welchen Einfluss haben städtebauliche Strukturen auf die Bildung und das Identitätsgefuehl sozialer Gemeinschaften, in welchem Zusammenhang steht die netzartige, hyperverlinkte Räumlichkeit des Cyberspace mit virtuellen Gemeinschaften? Haben nationalstaatliche Identitätsmuster überhaupt noch eine Überlebenschance, wenn Menschen aus allen Teilen der Welt online Gemeinschaften bilden? Liegt die Heimat des kosmopolitischen Weltbürgers gar im Internet?

Meine hoffnungsvolle Suche nach Anregungen und Lösungsansaetzen beginnt in einer umgebauten Lagerhalle des Kasseler Kulturbahnhofs, der ersten Station des Documenta-Parcours. Nicht nur die alten Meister der 70er- und 80er-Jahre, sondern auch viel Film und Video erwarten den Besucher.

Im Erdgeschoss demonstriert Matthew Ngui eindrucksvoll, welch langen Weg die Kommunikationstechnologie in den letzten Jahrzehnten zurueckgelegt hat. Über ein archaisch anmutendes Gewirr schalleitender Röhren können Besucher Essensbestellungen aufgeben. Wer Hunger hat, spricht einfach in die Röhre. Die Anwort des Künstler-Kochs dagegen erfolgt per Computer; Emails erscheinen auf dem Monitor - schneller, klarer, aber auch unpersönlicher.

Joachim Kösters Installation "Pit Music" (1996) spielt mit der Differenz zwischen Film, Musik und Theateraufführung. Auf einem grossen Holzpodest stehend wird der Betrachter mit der filmischen Aufzeichnung eines Konzerts konfrontiert. Die gelangweilten Reaktionen des gefilmten Publikums stehen in merkwürdigem Kontrast zum dramatischen Effekt der gespielten Musik - ein Spektakel, das beim übersättigten Zuhörer keine Gefühle mehr provoziert.

Im Obergeschoss stiess ich dann auf die erste multimediale CD-ROM-Produktion: Der Chinese Feng Mengbo gibt in seiner Produktion "My private Album" (1996) einen intimen Einblick in sein Leben unter der kommunistischen Diktatur. Die neuen Medien halten Einzug auf der Documenta, und entfalten sogar politische Brisanz.

Im Fridericianum, der naechsten Station der Ausstellung, kann man Mitglied der "typosophischen Gesellschaft" werden, die nach einer "neuen poetischen Versöhnung zwischen Kunst und Wissenschaft" strebt. Ecke Bonk gründete die illustre Gesellschaft Ende der 80er-Jahre. In einer Wilsonschen Nebelkammer hinterlassen ionisierende Teilchen für Sekunden Nebelspuren, und verschwinden danach wieder im Unsichtbaren. Eine Seite aus James Joyce "Finnegan's Wake" vertritt Kunst und Literatur. Das franzoesische Palindrom AIDE MOI : O MEDIA, das man vorwärts und rückwärts lesen kann, repräsentiert das Leitmotiv der typosophischen Gesellschaft. Sind Wissenschaft und Kunst etwa nur zwei unterschiedliche kulturelle Techniken, die aber, rückwaerts gelesen, letztlich dasselbe ausdrücken und bedeuten?

Hans-Jürgen Syberberg hat in seinem "Cave of Memory" (1997) mit Filmen, Videos, Projektoren und Klangmontagen den europäischen Kulturgrössen Schleef, Kleist, Goethe, Raimund, Mozart und Beckett eine multimediale Kathedrale erbaut. Theateraufführungen, Mitschnitte, Vorträge und unser aller Alltag kommunizieren im bedeutungsvollen Miteinander. Geschickt spielt Syberberg durch den Aufbau seiner multimedialen Installation auf das Platonsche Höhlengleichnis an.

Neue Medien verändern den Menschen

In der Documenta-Halle schliesslich dominieren die neuen Medien. Jordan Crandall reflektiert in seiner Multimedia-Installation Suspension (1997), wie die zweite grosse technologische Revolution hin zum Informationszeitalter unsere Rezeptionsmuster verändert:


Mit Hilfe von Medienprothesen (Computer, Handy, Scanner etc.) kann der Mensch (..) Informationen jederzeit abrufen und überall präsent sein - sofern er in der Lage ist, die Medien anzuwenden und ihre Nachrichten auszuwerten. Das bedeutet, dass er seine Rezeptionsmuster weitestgehend überarbeitet hat, um sie den durch die Technik vorgegebenen Mustern anzupassen.
Jordan Crandall

Der Betrachter betritt einen aus Videokameras, Projektoren, Computern und Konvertern komponierten Hybridraum, der sich dauernd verändert und dadurch den Benutzer/Betrachter zur steten Neuorientierung zwingt - wie im Cyberspace.

Einige Schritte weiter stösst der Besucher dann auf Computer, Monitore und Tastaturen. Das gab es noch nie auf der Documenta: junge HighTech-Künstler präsentieren auf der Documenta-WebSite (www.documenta.de) weltweit zugänglich ihre Projekte im Cyberspace, sprengen dadurch den engen geographischen Rahmen der Ausstellungsstadt Kassel.

Internet-Projekte

Joachim Blank und Karl Heinz Jeron beispielsweise thematisieren in without addresses (1997) Orientierung und Identität im Internet: Der Benutzer erhält keine Information über den Aufbau der WebSite. "Sage mir, wer Du bist!" - fordert zum Login auf. Der eingegebene Text wird als Suchmuster für eine Online-Recherche im Internet benutzt. Aus dem Ergebnis der Recherche erzeugt without addresses mittels verschiedener Layout-Vorlagen eine individuelle HTML-Seite. Der Benutzer hat eine Spur hinterlassen und ist fortan Bewohner der virtuellen Stadt. Die Autoren liessen sich dabei durch das bei Suhrkamp erschienene Buch von Roland Barthes "Das Reich der Zeichen" anregen.

Eva Wohlgemuths und Andreas Baumanns Location Sculpture System (1989-97) bildet ein Netzwerk von Objekten, die über die ganze Welt verteilt an bestimmten geographischen Orten untergebracht sind. Die AutorInnen verarbeiten Alltagssituationen und Reiseerlebnisse. Zusammen mit Dokumentarmaterial, Fotos und Videos entführt die WebSite in ein materielles, geographisches und emotionales Netzwerk, dessen Knoten auf ganz verschiedene Weise miteinander verbunden sind.

A Description of the Equator and Some Otherlands (1997) von Felix S. Huber, Philip J. Pocock, Udo Noll und Florian Wenz ist ein experimentelles Internet-Projekt, das Texte und Videos täglich neu zu Sequenzen verlinkter Hypermovies verarbeitet. Jeder kann als Autor selbst erlebte oder erfundene Szenen hochladen. Fuer Drehbuch und Schnitt ist jedoch nicht wie bei gängigen Film- und Medienproduktionen eine übergeordnete Autorität verantwortlich. Die Präsentation des Materials geschieht nach Massgabe der Spuren, die diejenigen hinterlassen, die in der WebSite navigieren. Die eingegebenen Wörter werden durch ein neuronales Netz gefiltert. Äquator steht symbolisch fuer "eine Identität in der heutigen globalen Gesellschaft" jenseits von Nationalismus und Provinzialität.

Chaterine David hat eine Documenta erarbeitet, die sich eben nicht als bunter Bilderreigen für sensationsgierige Kunstkonsumenten versteht, sondern als innovatives Kultur-Event mit kritischer Funktion. Das Diskussionsforum "100 Tage - 100 Gaeste" spielt dabei eine wichtige Rolle. Jeden Tag berichten abwechselnd Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Regisseure, Wissenschaftler und Techniker über ihre Arbeiten. Das breite Themenspektrum reicht dabei von Gedanken über die Entwicklung der Moderne in nicht-westlichen Kulturen über Fragen nach den Grundlagen der Demokratie bis zu den Folgen der neuen Informationstechnologien. Vorträge und Diskussionen sollen live im Internet übertragen und anschliessend archiviert werden; auch hier übernimmt das Web eine tragende Funktion.

Wem der virtuelle Documenta-Besuch im Cyberspace nicht reicht, der kann vom 21. Juni bis zum 28. September in Kassel alles vor Ort erleben. Eine Tageskarte kostet 25**DM (ermässigt 15**DM).


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